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Titel
Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900–1955.


Autor(en)
Haller, Lea
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 18
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Beat Bächi, Professur für Technikgeschichte, ETH Zürich

Lea Hallers Geschichte des Cortisons geht von der zunächst simpel erscheinenden Frage aus: Wie kam es, dass ein Hormon aus einer Drüse, von der man seit 1855 wusste, dass sie lebenswichtig ist, später zur Therapie einer Reihe chronischer Krankheiten eingesetzt wurde (S. 241)? Oder anders formuliert: Wie hat sich zwischen 1900 und 1955 der technische und epistemologische Zugriff auf die Hormone der Nebenniere gewandelt, und wie hat sich gleichzeitig das Wissen über den Körper und die Rechtfertigung medizinischer Praxis verändert (S. 19)? Da Haller nicht den geläufigen Narrativen der Historiographie des Cortisons folgt, nimmt sie die Leser/innen auf eine packende Reise mit, auf der einem nicht einfach nur Substanzen, Chemiker und Institutionen begegnen, sondern man wird in Schlachthäuser und Cockpits von Kampfpiloten geführt und dringt bis in die entlegendsten Winkel Afrikas und Lateinamerikas vor.

Aber nun von Anfang an. Da sich die Transformation der Substanz nur als Transformation auf der Ebene des Wissens verstehen lässt, zeichnet Haller in vier Kapiteln minutiös die Möglichkeitsbedingungen des Cortisons nach. Im ersten Kapitel fokussiert Haller das Aufkommen der Hormontheorie um 1900. Über diese Hormontheorie wurde das Problem der Nebenniere zusehends chemisch interpretiert. An der Vorstellung eines von chemischen Botenstoffen regulierten Körpers entzündete sich ein Streit zwischen chemisch und morphologisch argumentierenden Physiologen, der über zwei Jahrzehnte hin die endokrinologische Forschung strukturierte. Am Ende dieses Entwicklungsstranges stand Adrenalin, das synthetisch hergestellte Hormon der Nebenniere, welches aber nicht wie erhofft den tödlichen Ausfall dieses Organs kompensierte.

Das zweite Kapitel verfolgt die chemisch-pharmazeutische Suche nach dem «lebenserhaltenden Prinzip» der Nebenniere. Ende der 1920er Jahre war man sich einig, dass die Nebenniere aus zwei Teilorganen bestehe (dem Mark und der Rinde), die zwei unterschiedliche Hormone produzieren, wobei das Rindenhormon (Cortin) und nicht das Hormon des Marks (Adrenalin) lebenswichtig sei. Die Reformulierung dieser physiologischen Lösung lautete in der organischen Chemie: Aus dem natürlichen Extrakt Cortin sollte jene chemische Substanz isoliert werden, die für die Hormonwirkung zuständig war. Vor diesem Hintergrund etablierte sich in den 1930er Jahren eine von Notwendigkeit und Konkurrenz geprägte Kooperation zwischen Haco, Organon, Ciba und dem späteren Nobelpreisträger Tadeus Reichstein. Die Fallstudie zu diesem Forschungsverbund, der vornehmlich anhand von Quellen aus dem Ciba-Archiv (Firmenarchiv Novartis) sowie aus dem Nachlass Tadeus Reichsteins (Staatsarchiv Basel-Stadt) analysiert wird, zeigt eindrücklich, dass das erste, 1938 von Ciba auf den Markt gebrachte synthetische Rindenhormon nicht das Resultat der pharmazeutischen Standardisierung eines biologischen Wirkstoffes war, sondern dass es einem Zusammenspiel von Knowhow, Materiallieferungen, existierender produktionstechnischer Anlagen, patentrechtlicher Vorteile und intensiven Verhandlungen geschuldet war.

Kaum auf dem Markt, wurde dieses synthetische Produkt Gegenstand einer Kontroverse, die sich von der Lebenswichtigkeit verabschiedete und die Adaption des Körpers an physische Belastungen ins Zentrum stellte. Diese Verschiebung steht im Zentrum des dritten Kapitels. Die These, dass bestimmte Rindenhormone zwar für das Beheben eines körpereigenen Mangels nicht zentral seien, hingegen für die Adaptation des Organismus an Belastung von Bedeutung seien, stand auch im Zusammenhang mit der Konzeption eines neuen Hormonkörpers. Therapeutisch trat nun an die Stelle des Ersatzes bei Hormonmangel die Vorstellung eines optimierbaren Leistungskörpers; was beispielhaft an den Belastungen insbesondere von Kampfpiloten im Zweiten Weltkrieg debattiert wurde.

Das vierte Kapitel analysiert nochmals ein völlig neues Feld pharmazeutischer Forschung und therapeutischer Problemlagen. Um eine ergiebige industrielle Produktion von Cortison zu ermöglichen, suchten die Schweizer Chemiker nun nicht mehr in den Schlachthäusern nach einem Ausgangsstoff für eine Teilsynthese, ondern vor allem in Afrika. Konkret ging es darum, eine bestimmte Strophanthus-Art zu finden, die bei der Steroidsynthese als Ersatz für Gallensäure in Frage kam. Nach zweijähriger pharmazeutischer Entwicklung, botanischen Suchaktionen, transnationalen Abkommen und Materialflüssen, therapeutischen Testphasen und medialen Inszenierungen war Cortison endlich marktreif. Um aus dieser Substanz einen Kassenschlager zu machen, reichte seine materielle Produktion jedoch noch keineswegs aus. Zunächst mussten verschiedene medizinische Disziplinen zur systematischen Symptomtherapie übergehen. Denn Cortison heilte nicht, es generierte lediglich einen Körper, der Gesundheit simulierte.

Haller kennt sich bestens aus in der Historiographie pharmazeutischer Stoffe. Sie grenzt sich allerdings nicht nur gegen ältere Narrative ab, sondern auch gegenüber der neueren Forschung, wo viel von «Standardisierung» die Rede ist (S. 124f.) – und zeigt, dass eben gerade «nichts stabil» (S. 246) ist, aber die Forschungen dennoch nicht chaotisch und völlig gesetzlos vor sich gingen (S. 20). Besonders gelungen sind die Ausführungen zur «Rasterfahndung» nach einem neuen Stoff durch «Ratten- und Hundeeinheiten» (S. 99–102); dann aber auch die Ausführungen zur Forschung als Materialschlacht. (So wurden bereits in den ersten Jahren der Cortison-Forschung die Nebennieren einer Herde von fast 1,5 Millionen Kühen verarbeitet.) Und wenn einen Haller in den Dschungel mitnimmt, vergisst man endgültig, dass man hier eine Dissertationsschrift in Händen hält und nicht einen Roman. Da Haller nicht den «Masternarrativen» folgt und es ihr nicht darum geht, den «Anteil der Schweizer Gruppe sichtbar zu machen» (S. 25), verfolgt die Autorin auch zahlreiche Nebenpfade und nicht-intendierte Nebenwirkungen der Cortison-Forschung; so kommt etwa auch die Entstehung der mexikanischen Pharmaindustrie zur Sprache (S. 212f. und 218). Es sind gerade diese Episoden, wo in den Mikrostudien der Blick auf’s grosse Ganze nicht verloren geht, die die Studie nicht nur für Interessierte an «schweizerischer» Wissensgeschichte absolut lesenswert macht.

Zitierweise:
Beat Bächi: Rezension zu: Lea Haller: Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900–1950. Zürich, Chronos Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 157-159.